Pfarrer Dr. Horst Jesse, Berlstraße 6a, 81375 München, April 2007
Professor Dr. Enrique Banus, IX. Congreso Europeos, Pamplona 2007

IX. Kongreso Europeos, Pamplona 2007

"Die biographische Vergangenheitsaufarbeitung der Geschichte der DDR durch Literatur und Film"

In einem Gespräch über ihr Buch "Kindheitsmuster" sagte Christa Wolf 1975: "Es scheint mir, dass es nötig ist, die Schichten, die Ablagerungen, die die Ereignisse des Dritten Reiches in uns allen hinterlassen haben, wieder in Bewegung zu bringen... Literatur sollte versuchen, diese Schichten zu zeigen, die in uns liegen - nicht so säuberlich geordnet ... und schön bewältigt, wie wir es möchten... Ich spreche jetzt von einer anderen Art der Bewältigung: die Auseinandersetzung des einzelnen mit seiner ganz persönlichen Vergangenheit, mit dem, was er persönlich getan und gedacht hat und was er nicht auf andere delegieren kann. Hier versagt die Soziologie... Hier geht es um persönliche und gesellschaftliche Moral und um die Bedingungen, die beide außer Kraft setzen." (1a)

Mein Referat über biographische Vergangsheitsaufarbeitung in Literatur und Film verhandelt das Wechselverhältnis von Lebensgeschichte und Geschichte und ihre Bewältigung. Es gehört zur Selbstfindung der eigenen menschlichen Rolle in Geschichte und Gesellschaft.

Nach der glücklichen Wiedervereiniung des geteilten Deutschlands 1989/90 sprechen Menschen über ihre Vergangenheit in der ehemaligen DDR, die ein sozialistisch-kommunistischer und kein demokratischer Staat war. Sie wollten nicht schweigen, wie viele unter dem DDR-Staat geschwiegen haben. Sie versuchten sich von den erfahrenen Verletzungen durch den sozialistischen kommunistschen Staat freizuschreiben, um ein neues Leben gestalten zu können.

a) geschichtlicher Hintergrund:

Seit Jahren bemüht sich eine Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes "Aufarbeitung der SED-Diktatur". Im Gespräch sind die Gedenkstätten Hohenschönhausen, die Birtler-Behörde, die Stiftung Aufarbeitung, der ehemalige Stasikomplex in der Normannenstraße, Berlin, und andere Einrichtungen. Alles muss geschichtlich genau abgewogen werden, damit nicht die DDR-Betrachtung parteipolitisch durch die Regierung der BRD als Auftraggeber einseitig dargestellt wird.

Betont werden muss, dass sich auch die Westdeutschen für die ehemalige DDR interessieren. In ihrem Verständnis geht die deutsche Nachkriegszeit der BRD in die demokratische Gegenwart über. Die ehemalige DDR von 1949-1989/90 erscheint als eine bizarre Episode der deutschen Nachkriegsgeschichte, die sie abgesehen vom "Solidaritätsbeitrag" nichts angeht. Selbst die Bürger der ehemaligen DDR sind sich nach der friedlichen Wiedervereinigung 1990 unsicher, wie sie mit ihrer eigenen persönlichen und politischen Geschichte umgehen sollen.

Die Transparenz der DDR-Geschichte erscheint für die politische Kultur des wiedervereinigten deutschen Landes unerlässlich, um das geschichtliche Zusammenwachsen beider Teilstaaten Deutschlands zu ermöglichen. Als gelungen kann weitgehend die Aufarbeitung der NS-Geschichte, 1933-1945, angesehen werden. Deshalb muss die ehemalige DDR-Geschichte klug, sachlich richtig und für die Leser, die Besucher der Museen und des Kinos auf einsehbare Weise repräsentiert werden. Es gilt die Vorurteile der Betrachtungsweise abzubauen. Damit soll das Geschichtsbewusstsein der Staatsbürger gefördert werden, wie auch eine persönliche Aufarbeitung der Lebensgeschichte ermöglicht werden.

Weitgehend wird die ehemalige DDR aufgrund des Stacheldrahtes und des Mauerbaues als Gefängnis gesehen. Das öffentliche Leben der ehemaligen DDR-Bürger wurde durch Staatsgesetze geregelt. Neben den repressiven Seiten des sozialistisch-kommunistischen Systems gab es auch Entscheidungsspielräume, in denen die Verantwortung des Einzelnen für die Macht der Diktatur, dem SED-Staat, gefragt war. Trotzdem hat die SED-Regierung ihren Staatsbürgern misstraut und sie durch den Staatssicherheitsdienst (=Stasi) überwachen lassen. Daher beherrschte Angst die SED-Bürger. Schriftsteller, Intellektuelle und Akademiker erschienen der SED-Regierung wegen mangelnder Staatstreue als ein Unsicherheitsfaktor. Dies führte zu einer spannungshaften Wechselbeziehung von Herrschaft und Gesellschaft zwischen Akzeptanz und Auflehnung, Begeisterung und Verachtung, missmutiger Loyalität und Nischenglück. Themen wie Herrschaftsmacht, Gesellschaft und Widerstand bestimmten die Gedanken mancher ehemaliger DDR Bürger im Zeitraum von 1949-1990.

Die Frage bleibt: Wie soll die ehemalige DDR Geschichte betrachtet werden? Es bieten sich als Möglichkeiten an, die Sichtweise aus der Intensität der geheimpolizeilichen Verfolgung und Überwachung oder aus der Sicht der gewaltsamen Abriegelung ihrer innerdeutschen Grenzen? Die eingesetzte Kommission betont beide Betrachtungsweisen. Denn es zeichnet sich seit dem Ende der ehemaligen DDR ein kontinuierliches Weiterwirken eines ehemaligen Nomenklaturkaders und ein Aufweichen demokratischer Grundsätze ab. Neben der kognitiven Aufarbeitung der ehemaligen DDR-Geschichte bedarf es auch der sinnlichen Wahrnehmung der staatlichen Repressionen durch Besuch der Gefängnisse, der Staatssicherheitszentrale usw. Nur auf diese Weise kann Betroffenheit hergestellt werden.

Bei der Aufarbeitung der ehemaligen DDR-Geschichte gilt es, die geeigneten Wertmaßstäbe zu finden; denn die Wende 1989/90 die zur deutschen Wiedervereinigung führte, war auch eine "geistig-moralische Wende". Der Fall der Berliner Mauer führte zu einem Paradigmenwechsel. Zwar wurde das kommunistische sozialistische Weltbild durch das der westlichen Demokratie ausgetauscht. Es gab die sofortige Freiheit des Reisens und des Konsums und damit die Erfüllung langgehegter Wünsche der ehemaligen DDR-Bürger. Doch die mentale Verarbeitung der politischen Ereignisse bedarf eines längeren Zeitraumes.

b ) literarische Methode

Gerade die Schriftsteller wie auch die Filmregisseure ermöglichten sehr bald durch ihre Werke eine biographische Geschichtsbewältigung.

1985 hat Erika von Hornstein. Flüchtlingsgeschichten, in denen sie Lebensschicksale der Menschen, die von Ostdeutschland nach Westdeutschland flüchtet waren, festgehalten. (1) Die Erzählungen bewahrten Sekunden und Verhältnisse und Gefühle von Menschen, die in einem anderen Staat leben wollten. Sie berichteten von Menschen, die aus Selbstachtung sich dem Regime nicht unterordnen oder anpassen wollten. Es wurden Alltagsszenen dargestellt, wie die Ereignisse in konspirativen Zimmer; wie die einer Frau, die ihren Mann bei der Stasi verpfiffen hatte, wie die der ideologischen Schikanen und wie das unerträgliche misstrauische Dasein in der Einheitsgesellschaft der ehemaligen DDR und noch andere. Die Menschen litten unter den Inquisitionsmethoden der Staatssicherheit und der Politagenten des Staates, die diese auf Menschen ausübten, die nicht der Partei oder den staatlichen Genossenschaften beitreten wollten. Die Menschen wünschten gegenüber dem staatlichen Zwang, ihre persönliche Freiheit und ihre Eigenständigkeit zu bewahren und sich mit ihrer beruflichen Arbeit zu verwirklichen. Dieses bürgerliche Freiheitsideal widersprach dem sozialistischen Menschenbild. Eine Spannung von Privatem und Öffentlichem durchzog das Leben der ehemaligen DDR von 1945 bis 1989/90. Die SED-Regierung hatte dieses Phänomen entweder übersehen oder konnte mit ihm nicht umgehen. An dieser gesellschaftlichen wie auch an der wirtschaftlichen Diskrepanz von Schein und Wirklichkeit ist der ehemalige DDR-Staat zerbrochen.

Der innerdeutsche Kontakt zwischen den Regierungen der BRD und der DDR war seit der Teilung nicht abgebrochen. Es gab Verbindungen zwischen den Kirchen im Westen und Osten. Die BRD verstand sich als moralischer Anwalt für die Freiheit der DDR Bürger. Durch den ehemaligen Innenminister Dr. Rainer Barzel wurde der Freikauf der inhaftierten DDR-Bürger in die Wege geleitet. Rund 2,4 Millionen D-Mark hatte die ehemalige DDR durch den Freikauf ihrer im Gefängnis einsitzenden aufmüpfigen ehemaligen DDR-Bürger verdient. In dem Dokumentarfilm "Jeder schweigt von etwas anderem" 2006 wurde ihr Freikauf gezeigt. Die persönlichen Wunden der Vergangenheit hatten die Opfer nicht losgelassen. (2)

Die ehemaligen DDR Schriftsteller als seelische und gesellschaftliche Seismographen hatten in ihren Büchern die menschlichen Schicksale und Tragödie verhandelt. Trotzdem galten für diese traumatische Literatur die literarischen Maßstäbe des römische Schriftstellers Horaz: "podesse et delectare" (= zu nützen und zu entzücken).

Die erzählenden Lebensgeschichten aus der ehemaligen DDR legten die Koordinaten des Lebens in der sozialistischen Republik Ostdeutschlands, wie auch des Berufsleben, des Gemeinschaftslebens in der sozialistischen Diktatur offen. Trotz der Opfern und Bedrückungen formierten sich die Menschen in diesem totalitären Volksstaat zu einer Mehrheitsgesellschaft, in der dies alles durch das Schlagwort des "realexistierender Sozialismus" überspielt wurde.

Doch die menschliche Seele ließ sich nicht einzwängen und suchte nach einem Freiraum. Die seelischen Verletzungen meldeten sich und kämpften um Raum und Wiedergutmachung. Die Schuld der Täter ließ sich nicht verschweigen noch verdrängen. Die Opfer traten mit ihrer publizierten Biographie an die Öffentlichkeit und berichteten und klagten an, was ihnen das ehemalige DDR Regime angetan hatte. Dass es kein Vergessen gibt, zeigte der Fernsehfilm zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2007: " Heimweh nach drüben".

Zwar ist durch die friedliche Wiedervereinigung 1990 die Geschichte der ehemaligen DDR abgeschlossen. Doch ihre Nachwirkungen und Verletzungen sind den ehemaligen DDR-Menschen geblieben. Die Mentalität der ehemaligen DDR, dass alles von der Wiege bis zur Bahre geregelt ist, gibt es so nicht mehr. Es galt, nun das Leben in Freiheit selbst zu gestalten. Mit der Wiedervereinigung der BRD und ehemaligen DDR 1990 begann eine reflexive und distanzierte geschichtliche Haltung der ehemaligen DDR-Bürger gegenüber ihrer Vergangenheit einzukehren. Sie erkannten, dass vieles in der DDR einem bürgerlichen Leben zuwiderzulaufen schien. Die dauernde Schulung und die gespielte Freundlichkeit einerseits in der Öffentlichkeit und dass stille sich beobachten und reflektieren andererseits belastete das Leben und machte die ehemalige DDR zu einer bedrückender poltischen Einrichtung. Das Vertrauen zwischen Regierung und Bevölkerung wie auch unter den Bürgern untereinander waren geschwunden.

Eine Biographische Geschichtsschreibung kann diese Verwobenheit von innen und außen in dunklen oder hellen Farben schildern. Die Gefahr besteht, dass alles nur aus der Perspektive dieser einen Person beschrieben wird und somit die Interaktion fehlt. Der Schreibstil des allwissenden Erzählers wie auch seine Reflexion kann somit vorherrschen. Doch die biographische Geschichte ist einerseits Selbstbespieglung, wie auch die persönliche Befreiung der politischen Unterdrückung durch die sozialistisch-diktatorische Gesellschaft. Der Ich-Erzähler versucht die Fragestellung: "Wie konnte diese Bespitzelung durch die geschehen, die immerzu das Gute wollten?" zu begreifen. Die Biographien, wie auch die biographischen Romane der ehemaligen DDR Bürger strebten auf diese Weise Vergangenheitsbewältigung an.

c) Exemplarische Bücher

Am Beispiel zweier Bücher soll die Wechselgeschichte von Opfer und Täter in der ehemaligen sozialistischen kommunistischen DDR gezeigt werden. Die Bücher sind alle nach der Wiedervereinigung ab 1990 publiziert worden.

1) Buch: Kathrin Schmidt: Seebachs schwarze Katzen , Köln 2005

Kathrin Schmidt zeigt in ihrem Buch mit dem eigenartigen Titel "Seebachs schwarze Katzen" in refelxiver Weise das Leben eines IM-Arbeiters auf. Sie schildert wie er durch seine Tätigkeit nicht nur das Leben seiner Opfer, sondern auch seines und seiner Familie. zerstört hat. Die Täter sind nicht Sieger, sondern auch Opfer ihrer bösen Verstrickung mit dem Staatssicherheitsdienst.

Bei ihrer literarischen Ausarbeitung der Geschichte betont sie die Spannung zwischen geschichtlichem Geschehen und Erzählweise. Die Histographie verfügt über die präziseren Begriffe, um das vergangene Geschehen transparent zu machen. Die literarische Vergangenheitsbewältigung geschieht durch sie nicht mittels eines chronologischen Aufzählens der Fakten, sondern durch Beschreibung der sozialpsychologischen Vorgänge des Täters. Auf diese Weise gelingt es der Autorin, eine komplexe Darstellung der Lebensgeschichte des Täters und seiner Gesellschaft zu präsentieren. Die allwissende Erzählerin legt die Strukturen der komplexen Relationen und Verwicklungen des Täters frei und kann auch einen Ausblick auf die Zukunft des Täters aufzeigen.

Die Hauptfigur, Bert Willer, wird in ihrer Doppeldeutigkeit gezeigt als Familienvater und als MfS-Spitzel, der sich dem System verschrieben hatte und ihm diente, um alle möglichen politischen Gefahren von sich abzuwehren. Er übernahm den MfS-Dienst aus kriminalistischer Neugierde und auch wegen der Möglichkeit der Auslandsreisen. Er wurde wegen seiner Ausstrahlung speziell auf Frauen angesetzt.

Kathrin Schmidt schildert wie Willers Doppelleben durch das Zeigen von Fotografien im Arbeitskreis seiner Frau, Lou, aufgedeckt wird. Seine Frau stellt daraufhin ihn zur Rede und erfährt seine Tätigkeit als MfS und die seiner Frauengeschichten. Sie lässt sich nicht scheiden, sondern erzwingt von ihm als Gegenleistung die Finanzierung ihrer neuen Ausbildung. Doch das Übereinkommen wird nicht zur tragenden Basis ihres Ehelebens. Die ihr zugefügten Verletzungen treiben sie in den Selbstmord.

Bert Willer fühlt sich von nun an seinem Sohn, David, verpflichtet, mit dem er Urlaub während der Sommerferien auf Mallorca verbringt. Kurz vor dem Abflug stößt David auf das Aktenmaterial seines Vaters, das ihn als früheren Mitarbeiter der Staatssicherheit entlarvt. Die Akten verzeichnen mehrere Frauen, in deren Leben sich Bert Willer hineinbegeben hat, um mit ihnen intim zu werden und an intime Kenntnisse zu gelangen. David scheut die Konfrontation mit seinem Vater, sondern hält weiter zu ihm. Der Sohn ahnt nicht, dass sein Vater selbst von der Erinnerung an seine damaligen Einsätze und besonders an eine Frau, Bejla, die über Jahre seine Nebenfrau war, heimgesucht wird. Ihr Schicksal ist auf geheimnisvolle und beunruhigende Weise mit dem seinen verknüpft. Willer meint ihr immer wieder zu begegnen. An der Verhaltensänderung seines Sohnes spürt er, dass dieser etwas über ihn zu wissen scheint. Beide arrangieren sich während des Ferienaufenthaltes. Der Vater und Sohn scheinen fortan schweigend unter der Last der Vergangenheit zu leiden. David nimmt sich vor sein Leben neu zu strukturieren und voll auf die Schule zu konzentrieren. Willer sieht sich als Vater für seinen Sohn verantwortlich. Dennoch versucht er die begangenen Verbrechen an den Frauen wieder gutzumachen und seine Schuldgefühle loszuwerden. Kathrin Schmidt schildert, wie der Täter unter seinen Taten und seinem Schuldgefühl leidet. Sie rufen seine innere Unruhe hervor und seine Motivation die Frauen aufzusuchen. Bei der Suche hilft ihm seine alte Stasi-Seilschaft. Sein ganzes Bemühen erscheint ihm als ein persönlicher Leerlauf. Deutlich wird ihm dies als er bis ins Saarland fährt, um sein ehemaliges Opfer aufzufinden. Er macht sich mit dem Rad zur Einöde auf, wo sie mit ihrem Mann lebt. Doch als er die Frau aus der Ferne wahrnimmt und ihr begegnet, weiß er nicht mehr, ob sie sein Opfer ist.

Was sich Bert Willer, wie sein Name "Willer" sagt, willentlich vorgenommen hat, scheint ihm nicht zu gelingen. Er erkennt seine Opfer nicht mehr und sie erkennen ihn nicht mehr als Täter. Es sieht so aus, als ob die Vergangenheit nicht mehr so wichtig zu sein scheint. Sie haben eine neue Identität aufgebaut. Sie haben für sich selbst Vergangenheitsbewältigung geleistet. Die Autorin schildert nicht, wie die Opfer ihr psychologisches Trauma verarbeitet haben. Ab und an wird angedeutet, dass die Frauen wieder geheiratet haben. Bert Willer kann seine Vergangenheitsbewältigung nicht von sich aus allein meistern und die Opfer wollen ihm dabei nicht helfen. Deshalb nimmt er sich vor später einmal seinem Sohn seine Lebensgeschichte zu erzählen. Was er nie realisiert. (3)

Katharina Schmidt gelingt es mit ihrer phänomenologischen Schreibweise wie auch aus der Perspektive des Täters die schuldbeladene Vergangenheit des Mannes als MfS aus der Retrospektive zu verhandeln und auch der Introspektion zu vermitteln. Die Eigendynamik der Erzählung wird durch den Versuch der Vergangenheitsbewältigung verdeutlicht. Sie geschieht nicht durch Vergessen, sondern durch Begegnung und Wissen, wie auch durch die Erkenntnis des Scheiters trotz aller guten Bemühungen. Nur in der ständigen Auseinandersetzung mit ihr und in der Fürsorge für seinen Sohn gelingt es dem Täter seine neue Identität wiederaufzubauen.

Mit ihrem Roman hat die Autorin Schmidt trotz der Themen Schuldbewältigung und Verantwortung kein morallische Buch geschrieben. Vielmehr legte sie dar, wie schwierig eine geschichtliche Schuldbefreiung im Alltagsleben der Wiedervereinigung.

2) Buch: Nicole Glocke, Edina Stiller: Verratene Kinder. Zwei Lebensgeschichten aus dem geteilten Deutschland. München 2003.

Die Autorinnen schreiben aus ihrer Sicht ihre Suche nach ihren Vätern, die aufgrund der Ost-Westspionage mit einander persönlich verstrickt sind. Die Autorinnen lernen sich kennen durch die Vermittlung Werner Stillers, der Nicole Glocke auf einer historischen Tagung über Agententätigkeit ihr die Anschrift seiner Tochter Edina gibt. Trotz des Hasses auf seinen Gegner Karl-Heinz Glocke fühlt er sich für Nicole aufgrund der Vorkommnisse verantwortlich. (4)

Nicole Glocke ist Westdeutsche und Jahrgang 1969. Sie schloss ihr Geschichts- und Politikwissenschaftsstudium mit Promotion ab und arbeitet jetz als freie Mitarbeiterin in der Bundestagsverwaltung in Berlin.

Edina Stiller ist Ostdeutsche und Jahrgang 1971. Sie machte eine Ausbildung zur Fernsprech- und Fernschreibmechanikerin und ist jetzt Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte in Cottbus.

Ihr gemeinsames Buch sehen sie als eine persönliche und gemeinsame Vergangenheitsbewältigung an. Durch ihre Spionagetätigkeit sind die beiden Väter wie auch ihre Familien unheilvoll mit einander verknüpft. Die Töchter und ihre Familien leiden unter den Verletzungen ihrer Väter, die ihr Leben gemeistert zu scheinen haben. Die politisch aktiven Väter haben den Generationenkonflikt hervorgerufen. Ihre Töchter sind auf der Suche nach ihnen, die sie während ihrer Kindheit vermisst haben. Die geschichtliche Begegnung mit ihnen nach über zwanzig Jahren der Trennung wird von den Töchtern als Aufarbeitung, der ihnen durch sie zugefügten Verletzungen angesehen. Die Väter als Täter sehen dies als überflüssig an. Ihre Lebensdevise als Täter unterscheidet sich von der ihrer Töchter als Opfer. Von daher schildern die beschriebenen Väter-Töchter-Beziehungen ein asymetrisches Geschehen. Denn die Väter sind an der Vergangenheitsbewältigung nicht so interessiert wie die Töchter, die sie zu ihrer Identitätsfindung benötigen. Trotzdem fühlen sich die Väter nach der Begegnung mit ihnne für sie verantwortlich.

Beide Autorinnen nennen ihre Schreibmethode.

Nicole Glocke als promovierte Historikerin und Politologin betont ausdrücklich, dass sie schon wegen des Themas Spinonage das analytische und nicht das emotionale Denken in ihrer Schreibweise verwendet. Sie bemüht sich ihre Suche nach dem Vater und ihre Begegnung mit ihm mit der geschichtswissenschaftlichen Methoden zu betreiben.(5) Demgegenüber lässt sich Edina Stiller auf eine emotionale Schreibweise ein. Beide Autorinnen schildern aus ihrer Sicht abwechselnd die Wiederbegegnung mit den Vätern. Sie versuchen dadurch ihre persönliche geschichtliche Leerstelle aufzufüllen. Ihre ergriffenen Initiativen ermöglichen ihnen, ihre Kindheitsgeschichten als schon erwachsene Frauen abzuschließen.

Beide Autorinnen urteilen nicht moralisch über die Taten und die Versäumnisse ihrer Väter, noch schreiben sie psychologisch über ihr Leiden an ihrer offenen Kindheitswunde.

Die Autorinnen haben sich abgesprochen, chronologisch-biographisch abschnittsweise jeweils aus ihrer Sicht ihre wiedergefundenen Vätergeschichten zu schildern. Aufgrund dieser Schreibweise wird deutlich, wie verschieden und komplex die Lebensgeschichten in der sozialistischen kommunistischen ehemaligen DDR und demokratischen BRD gewesen sind. Die Töchter haben das Thema Vater. Ihre Väter sind trotz des Ost-Westgegensatzes persönlich durch den unterschiedlichen Glauben an den Kommunismus und den Dienst für den Kommunismus verbunden.

Am 18. Januar 1979 flüchtete Werner Stiller, Oberleutnant des Ministeriums für Staatssicherheit, mit wichtigen Dokumenten in den Westen. Wenige Tage später wird Karl-Heinz Glocke als DDR-Spion im Westen aufgrund dieser Unterlagen enttarnt und verhaftet. Zwei Familien verlieren ihre Väter, zwei Familien werden in den Strudel des Kalten Kriegs gezogen und bekommen die Auswirkungen der deutschen Teilung am eigenen Leib zu spüren.

Werner Stiller hat als geflüchteter ehemaliger DDR Spion im Westen Karriere gemacht und nach seiner Scheidung neu geheiratet. Karl-Heinz Glocke, BRD Bürger, wurde wegen Spionage zu zwei Jahren und neun Monaten Freiheitsstrafe verurteilt und lebte weiter in der BRD.

Nach Einsicht in die Stasi-Akten beginnen die beiden Autorinnen ihre Vergangenheitsbewältigung mit ihren Vätern. Edina Stiller fährt mit Angst nach Frankfurt/Main, um dort ihren wohnenden Vater, der sich nun Peter Fischer nennt, zu treffen. Sie weiß, dass sie von ihrer Mutter belogen wurde, als diese ihr erzählte, dass ihr Vater mit einer Kellnerin fortgegangen sei. Sie erarbeitet sich selbst die Geschichte ihres Vaters. Sie lernt sein Haus und seine neue Frau kennen. Sie beschreibt ihre Gefühle, Reaktionen und bemerkt, dass anlässlich der Begegnung mit ihm keine Vertrautheit aufkommt.

Ganz anders verläuft die Begegnung zwischen Nicole Glocke und ihremVater. Sie lernt zunächst Manfred Vogel kennen, dessen Vater, Wolfgang Vogel, die Agentenaustausche und die Freikäufe politischer Häftlinge getätigte. Sie setzt sich geschichtswissenschaftlich mit der Biografie ihres Vaters auseinander.

Die retrospektive Schreibweise der Autorinnen verbindet auf psychologische und historische Weise ihre Erinnerungen und ihre Begegnungen mit ihren Vätern.

Aus der Vergangenheit taucht für Edina Stiller auf, dass ihr Vater streng war und dass er ihre Mutter im Streit schlug. Ansonsten erinnert sie sich einer glücklichen Kindheit, in der sich ihr Vater rührend um sie kümmerte. Seine überraschende Flucht in den Westen zerstört ihre heile Familienwelt; denn sie kommt mit ihrer Schwester und ihrer Mutter von staatswegen in die Obhut fremder Menschen. Seitdem fühlt sich Edina Stiller minderwertig und hat Schwierigkeiten im Umgang mit Männern.

Auch Nicole Glocke empfindet die Verhaftung ihres Vaters als eine tiefe Erschütterung.

Beide Frauen schildern die Kindheitserinnerung ohne ihre Väter als einen Verlust.

Aus der Erinnerung, weiß Edina Stiller, dass sie ihren Vater sehr vermisste als ihre Mutter wieder heiratete. Der Tod ihrer kleinen Schwester wie auch die Vergewaltigung nach einer Tanzveranstaltung blieben für sie ein Trauma. Beruflich erlernte sie Fernsprech- und Fernschreibtechnikerin. Als ihre Mutter ihr zu ihrem 18. Geburtstag ihr die Republikflucht ihres Vatereröffnete, verschlechterte sich das Mutter-Tochter-Verhältnis. Trotz ihrer psychologischen Verletzungen blieb sie weiter zielstrebig, bewarb sich bei der Nationalen Volksarmee und hatte einen Freund. Bei einem West-Berlin-Besuch wurde sie als Kaufhausdiebin entdeckt. Trotzdem bestand sie ihre Berufsausbildung. Nach der Wende 1990 erfuhr ihre Mutter, dass ihr zweiter Mann von der Staatssicherheit auf sie angesetzt war. (6) Ihre Familienbiografie zeigte, wie das ehemalige DDR-Regime gezielt in das Familienleben eingriff, um die Menschen zu überwachen.

Nicole Glocke versucht sich wissenschaftlich ein Bild von der ehemaligen Staatssicherheit zu machen. Sie erfährt etwas über die Enttarnung ihres Vaters als Westagent durch Stiller, den Ostagent der BRD. Die Agententätigkeit ihres Vaters für die DDR im Westen entsprang seiner Begeisterung für den Sozialismus und die DDR. (7) Er sieht Stiller als den Verräter und Zerstörer seines Lebenswerkes. Trotz des Lebensbekenntnisses ihres Vaters forschte Nicole Glocke im Sinne der analytischen Wissenschaft weiter nach seiner Geschichte: "Für die Bewertung eines historischen Sachverhaltes ist die Beweisführung entscheidend und keine Emotion." (8) Sie entdeckte, dass er sich aus kleinen Verhältnissen emporgearbeitete und im Kommunismus die Etablierung einer gerechten Gesellschaft sah. Seine Agententätigkeit für "seine DDR" entsprang aufgrund seiner sozialen und ideologischen Isolation in der BRD.(9) Ihre geschichtliche Auseinandersetzung mit dem Vater hilft ihr zu ihrer Selbstidentifikation. Im Großen und Ganzen erscheint ihr ihr Vater als ein Fremdkörper ihres Lebens, der moralisch falsch gehandelte. In der Auseinandersetzung mit seiner Geschichte denkt sie über die Begriffe Denunziation, Verrat und Illoyalität nach. Sie findet im Sinne von Cesare Beccaria die Denunziation als Zerrüttung des Gemeinwesens. (10) Sie erkennt somit, dass die Agententätigkeit ihres Vaters nicht so idealistisch motiviert war, sondern sehr auf seinen Vorteil bedacht war. Trotz ihrer Kritik an ihm versucht sie, das Motiv des väterlichen Handelns zu verstehen ohne sich mit ihm identifizieren zu können. Sie begreift, dass er mit seiner Agententätigkeit in der BRD die sozialistische Ideologie der ehemaligen DDR zu konsolidieren beabsichtigte.(11) Bei ihren Forschungen findet sie heraus, dass die Spionage für die DDR auch eine militärische Information einschloss. Aufgrund ihrer Gespräche mit ihm erkannte sie, dass ihr Vater weiter der sozialistischen Ideologie verhaftet blieb, ohne die geschichtlichen Veränderungen begriffen zu haben. Als sie in der Erforschung über ihren Vater nicht weiterkommt, besuchte sie den Verräter Stiller, um mehr über ihren Vater herauszubringen. (12) Sie erfuhr lediglich, dass Stiller, der sich als Familienvater zeigte, aber ansonsten sich nur für Glocke als Agenten interessierte.

Edina Stiller berichtet, dass ihr Vater nach der Wende wieder Kontakt zu seiner Frau aufnahm. Er erbittet sich von ihr einen Zugang zu seinen Kindern. Trotz des Besuchs bei ihrem Vater gelang es ihr nicht, zu ihm ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Trotzdem half er ihr mit seinem Rat in ihrer schweren Krankheit.(13). Edina bleibt weiter eine zerrissene Person, während sich ihr Bruder seelisch ausgeglichen zeigt. In ihrem labilen psychischen Zustand verfällt sie dem Alkoholkonsum und muss nochmals den Führerschein machen. Eine von ihr aufgesuchte Psychotherapie bricht sie ab; ebenso wenig trägt sie ihre Schwangerschaft aus. Trotzdem gelang es ihr, mit guten Ergebnissen eine Umschulung abzuschließen. Das Verhältnis zu ihrem Vater verbesserte sich im Laufe der Zeit.

Aufgrund ihrer biografischen Auseinandersetzung wird beiden Frauen deutlich, dass sie ihre persönliche Stabilität in ihrem Beruf finden und nicht im Kreis ihrer Familie. Nicole Glocke beginnt angesichts ihres Wissens und Empfindens sowohl ihren Vater wie auch Stiller wegen ihrer Spionagetätigkeit zu verurteilen; denn sie hätten an ihre Familien denken müssen. (14)

Sie sieht den Unterschied zwischen sich und Edina Stiller darin, dass Edina den Verrat von der menschlich-psychologischen Dimension her betrachtet, während sie ihn unter den politisch-historischen Aspekt wahrnimmt. (15) Sie erkennen und kommen überein, dass sie ihre Leben ohne ihre Väter führen müssen, denn diese waren keine vorbildlichen Bezugspersonen und Orientierung für sie. (16)

Der Bericht beider Frauen macht deutlich, dass ihre Vergangenheit mit den Vätern vorbei ist und dass ihre vergangenen Verletzungen nun bewußt verarbeitet sind. Sie wissen, dass sie selbständig die Gegenwart wie auch die Zukunft meistern müssen, denn es gibt nur ihr persönliches Leben in der Gemeinschaft. (17) Ihre jeweils persönlichen Berichte in der Zusammenarbeit verdeutlichen, dass eine Vergangenheitsbewältigung durch eine geschichtliche Aufarbeitung möglich ist. Gleichzeitig haben sie jede für sich durch die Fixierung der vergangenen Geschehnisse ihrer Väter diese der Vergangenheit anvertraut. Von daher können sie offen für Gegenwart und Zukunft sein.

3) Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit durch das Medium Film des Florian Henckel von Donnersmarck: Das Leben der anderen, Filmbuch , Frankfurt/M. 2006

Die bisherige literarische Aufarbeitung kann durch das Medium des Filmes ergänzt werden. Gegenüber der nacherzählenden Methode der Literatur versucht es der Film mit der optischen Totalschau. Er führt den Zuschauer durch Wort und Bild die Tätigkeit der Stasi wie auch das Alltagsleben der ehemaligen DDR-Bürger vor Augen. Die ehemalige DDR- Gesellschaft so realistisch in ihrer Begrifflichkeit wie in ihrer Gestaltung lässt sich gut verfilmen.

Das Medium Film macht das Zusammenspiel vom öffentlichen wie auch innerem Leben der Gesellschaft im Nachhinein transparent. Es greift zurück auf ihr militärische Gebaren, ihre Normensprache, ihre fatale Begeisterung und Ideologieseligkeit, die keine moralische Zweideutigkeit kommen ließen. Es war alles sozialistischer Realismus. Dass dann doch alles in die Katastrophe führte, war bedingt, dass das ehemalige Leben der DDR-Bürger die Spannung zwischen Schein und Wirklichkeit nicht aushielt und dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht nach der sozialistischen-kommunistischen Ideologie gestalten ließen. Angesichts der nicht einlösbaren Utopien besiegte der Wunsch nach persönlicher Freiheit und Reisemöglichkeiten das sozialistisch-kommunistische System. Die Kritik in der ehemaligen DDR begann indirekt und höhlte sie aus. Selbst die Regimetreuen begannen das Leben ihrer Opfer mitzuerleben, mitzufühlen und erkannten so den Widerspruch zwischen Fiktion und Realität des sozialistischen Systems.

Die Staatssicherheit versuchte zwar jede Kritik im Keim zu ersticken, um die ehemaligen DDR zu erhalten und zu sichern, doch es gelang ihr nicht. Sie arbeitete in ihrer Methode ähnlich wie die mittelalterliche Inquisition, die jede Abweichung von der katholische Religion verfolgte und bestrafte, um so die Bevölkerung zu disziplinieren. Die kirchliche Inquisition versuchte Herrschaft über die Seelen der Menschen zu gewinnen und ihre geheimen Gedanken herauszufinden. Geistesgeschichtlich war dies nur möglich als die Seele zu einer Vernunftsache gemacht wurde. Mit der Individualisierung der Vernunft vollzog sich die Individualisierung der Seele, die an die Stelle ihres kosmischen Charakters trat. Die Seele konnte von nun an wie die Vernunft beurteilt werden. Die Inquisition hatte einen Messkatalog der Glaubenswahrheiten aufgestellt, mit dem sie durch ihre peinliche Befragung die Glaubensabweichungen der Menschen herauszufinden versuchte. Mit einem Rückschlussverfahren wurde vom äußeren Zeichen auf das Innere des Menschen gefolgert. Eheverfehlungen und abartige Sexualität waren Indizien, dass Dämonen die Seele besetzt hielten und von Gott wegführten. In der Vorstellungswelt der Zeit erschien von vergleichbarer stofflicher Beschaffenheit wie die Dämonen der Spiritus (=Geist), und wie sie wirkte auch er zwischen geistigen und körperlichen Instanzen. Die Krise, in die der Spiritus-Begriff im Laufe des 16. Jahrhunderts durch seine "Konkurrenz" zur Seele geriet, verdeutlichte die Problematik, in der die abendländisch-christliche Konzeption des Verhältnisses von "Geist" und "Materie" sich befand.

Der Mensch als geistiges und freiheitliches Wesen kann gut wie auch böse agieren. Er wird einerseits bestimmt durch sein Begehren und andererseits durch die Erziehung, die die positiven Kräfte fördern will. Er bleibt entscheidungsfähig. Diese menschliche Entscheidungsfreiheit ist eine Gefahr für jedes autoritäre Staatssystem, dass von seinen Staatsbürgern absolute Gefolgstreue verlangt. Weil der Saat niemals weiß, ob seine Staatsbürger immer loyal sind, hat er deshalb einen Überwachungsdienst, die Geheimpolizei und den Staatssicherheitsdienst aufgebaut, um die Meinung und Gedanken der Mitbürger zu erkennen und zu kontrollieren. All autoritären Staatssysteme des 20en Jahrhunerts hatten Staatssicherheitsdienste. Alexander Weissberg-Cybulski beschrieb in seinem Buch "Hexensabbat" Frankfurt/M 1977, wie Stalin die Sowjetmenschen beherrschte. "Er (=Stalin) hat in seinem Leben ein großes Geheimnis entdeckt: das Geheimnis des Apparates. Erzogen in der Schule des Marxismus, hat er sich nie von der Dogmatik des Marxismus hemmen lassen .... Stalin wollte die Macht ohne Schranken. Er wollte auf einen Knopf drücken können, der die Millionenmassen des russischen Volkes, der unterdrückten Nationen Asiens und der revolutionären Arbeiter Europas in Bewegung setzt. Er wollte befreit werden von dem lästigen Zwang, seine Absichten und Gedanken der Kontrolle anderer zu unterwerfen, ... Er wollte frei sein. Und er sah keinen anderen Weg dazu als die Millionen seines Volkes zu versklaven." (18) Durch die kommunistische Partei baute Stalin eine verschworene Gemeinschaft von Berufsrevolutionären auf, die sich freiwillig einer militärischen Disziplin unterwarfen. Die Organisation wurde durch ihr Wahrheitsbewusstsein zusammengehalten und sah sich berechtigt dieses von den Staatsbürgern einzufordern. Das Lied "Die Partei hat immer recht" kennzeichnete die gesellschaftliche Situation in einer kommunistischen Diktatur. So waren die Menschen der Partei, der Geheimpolizei wie auch der Administration durch eine einheitliche Ideologie wie auch durch materielle Interessen und durch Angst verbunden. Die Folge war, dass die Ansichten des Einzelnen in der kommunistischen Diktatur ohne Bedeutung waren. Der Staatsbürger hatte nichts mehr zu entscheiden; denn er bekam nun mehr detaillierte Befehle von oben. Die Ideologie bestimmte das korrekte Verhalten. Ein unvorsichtiges Wort, das von der offiziellen Ideologie abwich, konnte geheime Gedanken verraten und führte zur Vernichtung dessen, der sie aussprach. Solange die Staatsbürger rechtgläubig waren, konnte ihnen nichts passieren. Trotzdem blieb die kommunistische Partei den schweigenden Volksmassen gegenüber misstrauisch. Die Geheime Staatspolizei musste alles überwachen. Verdächtige Staatsbürger wurden verhört und nannten unter dem Druck weitere Personen. Doch die Freiheit lies sich nicht unterdrücken. Nach 40 Jahren endete die Herrschaft des sozialistischen kommunistischen Systems in der DDR. Es kam zur friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands 1990. Diese ehemalige gesellschaftliche Konstellation in der DDR ließ sich als Handlung in einem Film plastisch und schauspielerisch aufzeigen

Als Methode der Darstellung wählte Florian Henckel von Donnersmarck im Sinne des aristotelischen Theaters die überschaubare Einheit von Raum und Zeit. Damit gelang es ihm, das rechte Wechselverhältnis von Wort und Bild zu finden. Der Film kann wie ein Buch gelesen werden. Denn die Bildszenen sprechen für sich und laden den Betrachter zu einem Wechselgespräch ein. Die zum Film-Bild hinzukommende Musik will die Bildintension unterstreichen. Wort, Musik und Bild geben auf diese Weise dem Filmbetrachter eine Denkrichtung an. Mit filmischer Guckkastenmethode wird der Zuschauer aus möglicher passiver Haltung herausgenommen und zum Mitagieren angeregt. Von Donnersmack verwendete bei der Erstellung seines Films "Das Leben der andern" die epischen Theatermethode Bertolt Brechts.

Der Regisseur gesteht, die Idee zu seinem Film durch ein Maxim Gorki Zitat bekommen zu haben, das erinnert, dass Lenin die "Appassionata" nicht oft hören könne, weil er sonst "liebevolle Dummheiten sagen und den Menschen die Köpfe streicheln " wolle, auf die er doch "einschlagen, mitleidlos einschlagen" müsse, um seine Revolution zu Ende zu bringen." (19) Von Donnersmarck erkannte: "Manche Musik zwingt einfach dazu, das Menschliche über die Ideologie zu stellen, das Gefühl über die Prinzipien, die Liebe über die Stränge."(20) Diese Erkenntnis zeigt sich als Schlüsselsatz zum Entstehen und Verstehen des Films "Das Leben der anderen".

Der Regisseur erzählte, dass ihn während des Hörens der "Mondschein-Sonate" das eingefallene Bild des Manns mit einem Kopfhörerauf zur Gestaltung des Films inspirierte. Dieses Bild zieht sich wie ein roter Faden durch den Film. Der Mann mit dem Kopfhörer sitzt in einem trostlosen Raum. Der Zuschauer fühlt, der Mann hört nicht Musik, sondern er belauscht jemanden, einen Feind seiner Ideen. Damit wird kennzeichnend ausgedrückt, dass das Leben der Bürger der ehemaligen DDR vom Mithören und Belauschen der Staatssicherheitsbehörde überschattet war. Die Musik schafft gemäß des Gorki-Zitats die Verwandlung und Bekehrung des Stasi-Hauptmannes vom loyalen Staatsdiener zu einem sich frei entscheidenden Menschen, der Bedrängten hilft.(21) Auch in einer Diktatur hat kann sich der Staatsbürger trotz Überwachung frei entscheiden.

Dem Medium Film gelingt es als einer emotionalen Kunstform mit abstrakten Zeichen, Wirklichkeit zu erschaffen, in der jeder Gedanke sichtbar wird und in der jede Handlungsweise verstanden wird. Der Film wird so zur Erzählung eines menschlichen Dramas, das überall auf der Welt sich ereignen und verstanden werden kann. Der grün-grau gehaltene Farbton des Films verdeutlicht das bedrückende und das zwiespältige der Alltagswelt der ehemaligen DDR. Der grün-graue Farbton des Films erinnert an die Kleidung der Staatssicherheitsbeamten, die in grinsender, freundlicher Form, die die böse Absicht verbirgt, gegenüber den Staatsbürgern auftreten. Emotionslos, ja traumatisiert erscheinen die belauschten Menschen gegenüber den bewusst agierenden Stasi- Beamten, deren Macht in das Leben zweier Menschen eindringt, die im Laufe der Zeit zu Marionetten der Stasi werden.

Der Mann mit Kopfhörer hat im Verborgen Macht über andere Menschen. Er kann ihre geheimen Gedanken auszuspionieren und ihre Gespräche schriftlich fixieren und sie so als Feinde an die Staatsgewalt ausliefern. Dem Regisseur gelingt es mit einfacher Bildkonstellation der Abhöranlage auf sinnliche Weise die Zwangswelt der DDR einzufangen und zu veranschaulichen.

Durch das Medium Film wird dem Zuschauer visuell eine parallele Betrachtungsweise sowohl der Welt des Täters, Stasi-Offizier, Gerd Wiesler wie auch der Opfers, des Schriftstellers Georg Dreymann und seiner Freundin, der Schauspielerin Christa-Maria Sieland, vor Augen gestellt. Der Zuschauer erlebt das Bedrückende der DDR-Alltagswelt. Der Schriftsteller und seine Geliebte sind Gefangene des Staates ohne es zu wissen. Diese Doppelwelt des ehemaligen DDR-Staates von Schein und Wirklichkeit wird auch von dem Künstlerpaar praktiziert. Die Schauspielerin führt ein Doppelleben, dass seiner Geliebten und dass der Geliebten des Ministers. Der Schriftseller weiß aber dies nicht. Zum Schlüsselsatz zwischen beiden wird seine Anfrage: "Es interessiert mich wirklich sehr zu wissen, warum du mich nicht angerufen hast." Sein Vorwurf beklagt die fehlende Wahrheit ihres Zusammenlebens.

Der Regisseur als allwissender Erzähler führt den Zuschauer mittels des Films chronologisch die Aktion und Reaktion von Täter und Opfer vor. Die Handlungsweise der Stasi ist bestimmend, der die Opfer ahnungslos ausgeliefert sind. Weder Täter noch Opfer können aus dem Geschehen austeigen. Alles läuft wie ein Uhrwerk ab und zielt auf eine Tragödie. Der Film veranschaulicht die Zerstörung der Schauspielerin Christa-Maria Sieland, die stellvertretend den Zusammenbruch der ehemaligen DDR symbolisiert.

Dem Film gelingt es zu schildern, dass der Untergang der ehemaligen DDR im Überwachungssystem ihrer Bürger liegt. Die Staatssicherheitsbehörde zerstört durch ihre Abhörmethode, dass jeder ein Feind des Staates sein könnte, das Gemeinschaftsgefüge des Staates. Die zu verhörende Person wird als Lügner angesehen, der die Wahrheit abzuverlangen ist. Nur durch ständiges Befragen ein und desselben Vorganges während der Verhöre gibt der Gefangene sein Geheimnis preis. Mittels dieser Methode wollte der DDR-Staat die geistige Kontrolle über seine Bürger erlangen. Die Staatsmacht kam nicht auf den Gedanken, dass der Staatsbürger auch seinen Staat mag.

Der Stasi-Hauptmann Wiesler erscheint als Vollzugsorgan des Staates beim Überwachen des Künstlerpaares, die sich und ihr Land mögen. Sie geht voll und ganz in ihrer Schauspielkunst. Er schreibt als sozialistischer Schriftsteller und beobachtet kritisch das Geschehen des DDR-Alltags. Beide sind starke Figuren, die trotz Zusammenlebens jede für sich ihr Geheimnis bewahren.

Die Filmszenen wechseln zwischen dem ungezwungenen Leben des Künstlerpaares und dem sie überwachenden Hauptmann im Dachgeschoß des mehrstöckigen Hauses. Mit großen leeren Augen und eingezwängt zwischen den Kopfhörern und dem Kragen der Jacke, die er bis unters Kinn geschlossen trägt. sitzt er lauschend auf dem Dachboden. Er erscheint als ein dienstbeflissener Staatsbeamter, der in sich selbst gefangen ist, der nur die Gespräche des Künstlerpaares und ihres Freundeskreises hört und protokolliert. Ebenso auch die Gespräche der Kollegen misstrauisch verfolgt.

Aber wie er da sitzt und hinein hört in das Leben der Anderen, passiert etwas mit ihm. Durch das Abhören der Gespräche des Künstlerpaares, deren Musik und deren Vorliebe für Bertolt Brechts Poesie fühlt sich der Stasi-Mann angesprochen. Im Laufe der Zeit entwickelt sich eine Wechselbeziehung zwischen Opfer und Täter. Der Stasi-Hauptmann kommt vor allem der Künstlerin nahe, die er davor bewahren möchte völlig dem Ministers hörig zu werden. In einer Kneipe rät er ihr inkognito nicht zum Minister ins Hotel zu gehen. Durch ein Klingelzeichen informiert der Stasi-Mann den Schriftsteller wie seine Freundin aus dem Auto des Ministers aussteigt. Diese Sympathie des Hauptmannes für das abzuhörende Künstlerfreundespaar verdeutlich, dass der Stasi-Mann ein Mensch mit Herz und Verstand ist und nicht bloß Organ des allmächtigen und allgegenwärtigen Staates.

Der Zuschauer des Films hat die Möglichkeit alles, was der Hauptmann empfindet und denkt, an dessen Augen abzulesen. Auch die persönlich aufkommenden Zweifel des Hauptmannes im Gespräch mit seinem Vorgesetzten werden gezeigt, der ihn durch ein Freudenmädchen wider Freude an seinem Dienst machen will. Auf diese Weise gewinnen die Zuschauer Einblicke in die Methoden des ehemaligen DDR-Staates.

Die Stasi konnte aufkommen, weil sie der ehemalige DDR-Staat aufgrund seines Misstrauens gegenüber seinen Bürgern brauchte und weil sich Menschen ihr verschrieben hatten. Wiesler porträtiert den pflichtbewusster MfS Offizier, der in der zentralen Untersuchungshaftanstalt des MfS Berlin-Hohenschönhausen, einen Fall von "Republikflucht" aufzuklären hat. Unter "Operativem Vorgang" verstand das MfS die höchste Stufe der konspirativen Überwachung von verdächtigen Personen, damit sie als feindlich-negative Kräfte nicht wirksam werden konnten. (22) Wiesler leidet unter dem zynischen Karrierismus seines MfS Vorgesetzten. Trotzdem glaubt er mitbeitragen zu können, die Ziele des Kommunismus zu verwirklichen. Selbst die Schriftsteller wurden in der DDR im Sinne Stalins als "Ingenieure der Seele" angesehen und von der Partei gefördert und gebraucht. Deshalb genießen der Schriftsteller und seine Freundin auch Privilegien des Staates. Erst wenn sie sich gegen den Staat kehrten und ihre selbstbestimmte menschliche Individualität zeigten, widersprachen sie dem kommunistischen Menschenbild und wurden von der MfS verhört, bespitzel, bekämpf und zu Objekten ihres Hasses.

Dem ehemaligen DDR-Regime gelang es nicht, die Menschen in ihrem Sinne zu prägen, dass sie nicht selber denken und entscheiden vermochten. Selbst Hauptmann Wiesler verhält sich loyal zum Regime und bleibt Mensch, der nicht bloß die Befehle ausführt, sondern sich auch auf das Leben seiner zu verhörenden Opfer einlässt. Als Hauptmann hat er alle Vorkommnisse gegen den Staat zu melden. Als Mensch verhält er sich gegenüber einem kleinen Jungen in seinem Wohnblock, der ihn im Hausaufzug mit den Worten konfrontiert: "Mein Papa sagt, Du bist ein böser Mann". Er nimmt dies zur Kenntnis und reagiert anders als erwartet. Er spricht mit dem Jungen, so dass dieser dann feststellen kann: "Du bist doch ein guter Mensch". Damit beginnt die charakterliche Wende im Hauptmann, der sich fragt, ob er im Sinne des Staatsschutzes arbeitet oder nur für die persönlichen Interessen des Ministers, der seinen Rivalen, den Schriftsteller, bei der Schauspielerin, aus dem Feld schlagen will. "Die Sonate vom Guten Menschen", ein Musikstück im Geiste des russischen Komponisten Dimitri Schostakowitsch, öffnet in Wieslers MfS-Korpsgeist und führt zu seinem Sinneswandel gegen das Abhören des Schriftstellers Dreymann und seiner Freundin. Er entzieht sich so dem Wächteramt des Sozialismus. Er beginnt seinem Vorgesetzten die Tätigkeit Dreymann für den "SPIEGEL" zu verschweigen, dem dieser die geheimgehaltene Statistik über den Suizid in der DDR zuspielte. Trotz des Stasi Maulwurfs beim "SPIEGEL" kann 1977 die Veröffentlichung im Siegel nicht verhindert werden.

Der junge Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck entwarf mit seinem Film ein nüchternes Bild über die Willkür des ehemaligen DDR-Staates im Umgang mit seinen Bürgern. Er lässt den Figuren ihre Würde und stellt sie dar, wie sie trotz Überwachung agieren. Auf diese Weise gelingt es ihm die zwei Lebenswirklichkeiten der DRR-Bürger herauszuarbeiten, nämlich die öffentliche von der Partei bestimmte und die der privaten zu Hause und im Freundeskreises. Der Regisseur arbeitet nicht im Schwarz-Weiß-Klischee, sondern zeigt auch die möglichen Freiheiten, die die ehemaligen DDR-Bürger haben konnten. Hauptmann Wiesler zerstört aus freier Entscheidung das Triumpfgefühl seines Vorgesetzten, indem er die Schreibmaschine als belastendes Material aus der Wohnung des Schriftsellers entfernte. Damit legte er seine zaudernde Haltung, die an Hamlet erinnert, ab und wurde zu einem Handelnden und stellte sich auf die Seite der Opfer. Er wird somit zum Schutzengel des Künstlerpaares. Trotzdem endet die Begegnung tragisch. Denn in der Turbulenz der Ereignisse läuft die Schauspielerin vor ein Auto und wird getötet. Sein ositives Handeln bezahlte der Stasi-Mann Wiesler mit seiner Degradierung.

Der Film erzählt die Geschichte der noch lebenden Akteure nach dem Fall der Mauer. Die Stasi-Leute bedauern zwar den Untergang der ehemaligen DDR ohne jegliche Reue über ihr Tun zu zeigen. Der degradierte Hauptmann verdient sich seinen Lebensunterhalt als Zeitungsausträger. Der Schriftsteller sieht seine Stasi-Akte ein und notiert sich die Nummer des ehemaligen Stasi-Hauptmannes. Dreymann verarbeitet sein Leben in der ehemaligen DDR in einem Roman. Bei seinem Gang durch die Straße erblickt der ehemalige Hauptmann in einem Buchladenschaufenster das Bild des Schriftstellers mit seinem Buch. Er kauft es sich und findet beim Aufschlagen des Buches, dass es ihm gewidmet ist.

Der Film wurde aus der Retrospektive gedreht. Dies war nur aufgrund der veränderten geschichtlichen Situation nach der Wende 1989/90 möglich, die eine Stasi-Akteneinsicht erlaubte um kognitiv die Vergangenheit aufzuarbeiten.

Film und Realität

Dem Regisseur gelang es mit dem Film "Das Leben der anderen" die ehemalige DDR-Realität wie auch die der Stasi-Tätigkeit einzufangen und nachzustellen. Florian Henckel von Donnersmarck besetzte fast alle Rollen mit Westschauspielern bis auf die des Hauptmanns Wiesler, den der Schauspieler Ulrich Mühe verkörperte, der selbst aktiver Schauspieler in Ostdeutschland war und die Methoden der Staatssicherheit miterlebte. Er war Mitarbeiter der Stasi, obwohl er keinem schadete. Deshalb konnte er so gut die Stasi-Rolle im Film verkörpern. Beim Lesen seiner Akte des Staatssicherheitsdienstes in der Gauck-Behörde fand er den Bericht von vier Stasi-Mitarbeiter, die ihn als "Inoffizielle Mitarbeiter" (=IM) bezeichneten. Nach dem Lesen des Berichts sagte er offen, dass es den Stasi-Mitarbeiter nicht zustehe, zu sagen, sie hätten ihn nicht geschadet, denn sie können seinen seelischen Schaden nicht beurteilen. Nur er als Opfer kann über die Verletzungen sprechen.

Weiter offenbarte ihm die Akteneinsicht, dass seine Frau, eine bekannte Schauspielerin, Stasi-Mitarbeiterin war und ihn ausspionierte. Aus anderen Aktenunterlagen der Stasi ging hervor, dass er als geführter Inoffizielle Mitarbeiter, Mühe, die Staatssicherheit "generell ablehnte". Durch einen Rechtsanwalt forderte seine Ehefrau ihn, Mühe, auf, seine Aussagen über sie zu widerrufen. Er tat es nicht, sondern meinte: "Ich will keine Rache oder Strafe. Ich will nur die Freiheit, die Dinge beim Namen zu nennen." Die Ehe ist nach der Wende zerbrochen. Die Tochter wuchs bei ihrem Vater auf. Beim Betrachten der Fotos aus der Vergangenheit bemerkte er: "Ich sehe da einen, der noch sehr nach innen schaut, einen Fremden." Gewiss kann einer so über die verarbeiteten Verletzungen sprechen und sie auch teilweise fallen lassen. Trotzdem blieb ihm eine mitgehende Narbe in seiner Lebensgeschichte und vor allem in seiner Sprache.

Ulrich Mühe fühlte sich durch die zu spielende Rolle des Stasi-Hauptmannes an seine Vergangenheit erinnert: "Es ist wie ein Phantomschmerz". Damit beschrieb er, was bei vielen Menschen im Osten, also in der ehemaligen DDR, zurückgeblieben ist. Trotzdem gestand Ulrich Mühe nach dem Zusammenbruch der ehemaligen DDR: "Man hat nicht mehr die Wirklichkeit zu beschreiben, was einen mal ausgemacht hat, es ist alles weg."

Natürlich wirft sich die Frage auf: "Was ist es denn, das einen ausgemacht hat?" Für Mühe war es die persönliche Haltung und die Arbeit. Er sah als sein Lebensziel die Schauspielkunst. Die Bürger der DDR anerkannten sie. Die Regierung schätzte sie, weil sie Helden brauchte um ihre Ideale aufzuzeigen. Als gefeierter Schauspieler wurde er vom Westdeutschen Regisseur Bernard Wicki in seinem Film "Das Spinnennetz" engagiert. Von der ehemaligen DDR bekam er einen Pass mit Arbeitsvisum. Er schaute sich den Westen an und kehrte wieder zurück. Durch die Begegnung mit der Stasi wusste Mühe, dass er in einem Überwachungsstaat lebte. Er sah das Vorgehen der Stasi-Leute gegen Mitbürger als Willkür an.

Mühe erkannte auch, dass die Menschen der ehemaligen DDR die Überwachung durch den Staatssicherheitsdienst erahnten. Der Staat versuchte seine Bürger zu disziplinieren. Sie haben sich arrangierten. Es war ihnen anzumerken: "Jeder schweigt von etwas anderem." Sie hofften so ihre Lebenssituation zu verbessern. Im Laufe der vierzig Jahren hatten sie die Staatsideologie verinnerlicht, um in der DDR leben und arbeiten zu können. Doch die fortlaufende Heuchelei führte zu einer inneren Zerrissenheit, die sich nach außen wandte und zu Konflikten mit dem Staat und seinen Organen führte. Die langen Verhöre führten bei den betroffenen Menschen zu physischen Zusammenbrüchen und zur Zerrüttung des Geistes, so dass die Menschen psychische Wracks wurden, die nicht mehr denken konnten, geschweige denn klare Sätze zu sprechen in der Lage waren. Äußerlich schienen sie um Jahre gealtert zu sein.

Als eine Befreiung empfanden daher viele DDR-Bürgern als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel und damit die politische Freiheit für alle DDR-Bürger gegeben war.

In der Retrospektive wurde deutlich, dass weder die Beamten noch die Intellektuellen in der Lage waren während der ehemaligen DDR-Zeit vernünftig mit den Mitmenschen zu sprechen. Das Ahnen um den Überwachungsstaat veränderte das Verhalten wie auch das Sprechen der ehemaligen DDR-Bürger untereinander. Keiner traute dem anderen. Der Hauptdarsteller des Filmes "Das Leben der anderen", Ulrich Mühe, bemerkte im Nachhinein dazu: "Wir hatten so viele Jahre kluggeschissen von da oben (= Theaterbühne), und sie (=Publikum) haben uns dafür geliebt und sicher oft beneidet. Jetzt wollten sie (=Zuschauer) mehr, sie hatten nur ihre Sprache, ihren Ausdruck noch nicht." Eine wichtige Bemerkung, die besagt, wie lange es dauern wird, kognitiv die Vergangenheit zu verarbeiten und die neue Situation wahrzunehmen und um sich als Ich verdeutlichen zu können. Die Menschen benötigen Zeit um im nun gegeben freien Raum frei atmen und sprechen zu können.

Nach der Wende entschied sich der Schauspieler Ulrich Mühe für den Beruf eines freien Schauspielers. Er wollte nicht mehr in der Theaterkantine sitzen und sich hinter einem Anspruch verbarrikadieren, ohne zu wissen, ob er standhalten würde, wenn die Welt sich einmal gegen ihn lehnen würde. Er sieht sich in der gewählten Entscheidung bestätigt.

Der Film wird von Bürgern der ehemaligen DDR nicht in Frage gestellt: "Was maßt ihr euch an? Das ist unser Leben, über das ihr da verhandelt". Vielmehr bedankten sie sich für diesen Film, der die Situation von Opfer und Täter widerspiegelte und so der Geschichtsbewältigung der ehemaligen DDR-Vergangenheit vieler Menschen dient. Trotz des bedrückenden Themas der Überwachung von Menschen zeigt der Film Hoffnung, weil er auch die Entscheidungsfreiheit des Hauptmannes im ehemaligen DDR-Staat darlegte. Der Film belegt auch, dass sich geschehenes Unrecht nicht ungeschehen machen lässt. Von daher gilt es, sich für eine demokratische Staatsverfassung, für die Menschenrechte, für die Freiheit und die Gerechtigkeit einzusetzen.

Anmerkungen:

1a) Wolf, Christ: Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959-1985, Darmstadt 1987, S. 338 und 810-811
1) Hornstein, Erika von: 43 Berichte aus den frühen Jahren der DDR. Nördlingen 1989
2) Storck, Matthias: Karierte Wolken. Lebensbeschreibungen eines Freigekauften" Moers 1993.
3) Schmidt, Kathrin: Seebachs schwarze Katzen, Köln 2005, S., 266-271
4) Glocke, Nicole; Stiller, Edina: Verratene Kinder. Zwei Lebensgeschichten aus dem geteilten Deutschland, München 2003, S., 187
5) a.a.O., S., 12
6) a.a.O., S., 89
7) a.a.O., S., 95
8) a.a.O., S., 99
9) a.a.O., S., 103
10) a.a.O., S., 106
11) a.a.O., S., 107
12) a.a.O., S., 110
13) a.a.0., S., 152
14) a.a.0., S., 192
15) a.a.0., S., 219
16) a.a.0., S., 220
17) a.a.O., S., 222
18) Weissberg-Cybulski, Alexander: Hexensabbat, Frankfurt/M 1977, S., 373.
19) Das Leben der anderen. Filmbuch von Florian Henckel von Donnersmarck, Frankfurt/Main 2006, S., 169.
20) a.a.0., S., 170
21) a.a.O., S., 170
22) Fricke, Karl-Wilhelm: Geschichte der MfS, Berlin 1990

Pfarrer Dr. Horst Jesse, Berlstraße 6a, 81375 München, Deutschland, Oktober 2007