Jesse, Horst; Wechselverhältnis von religio und fides; in: Homiletisch-Liturgisches Korrespondenzblatt - Neue Folge; 24. Jahrgang, 2007, Nr. 89, S., 163-170, ISSN: 0724-7600

Wechselverhältnis von religio und fides

Unsere Zeit verwendet Religion und Glauben fast synonym: Christlicher Glaube, Christliche Religion. Doch beide Begriffe unterscheiden sich. Daher gilt zu fragen: Was ist ein religiöser Glaube und was ein christlicher?
Religion erscheint heute angesichts des politischen Missbrauchs ideologieanfällig. Doch sie ist nicht Ideologie. Gewiss kann Religion fundamentalistisch werden, muss es aber nicht. Es wird angesichts der Terroranschläge festgestellt, dass sie zum Bösen verführt. Selbstmordattentäter auf der Welt motivieren religiös ihre Handlungsweise. Wie steht Religion zum Bösen? Sind die Religionen angesichts des religiös motivierten Terrors nicht weitgehende hilflos: in Israel/Palästina/ Libanon, im Irak, im Sudan, in Sri Lanka? Die Religionsgespräche untereinander sind nicht abgebrochen. Manche Religionsgemeinschaften haben durch ihre Zusammenarbeit zur Linderung und der Beendigung von Konflikten beigetragen: in Südafrika, in Bosnien, im Kosovo, in Sierra Leone, in Uganda.
Heute wird heute angesichts des religiös motivierten Terrors nach der guten Religion gesucht. Welche Eignschaften muß eine solche Religion haben, die für die Menschen und ihr Zusammenleben gut ist?
Selbst die 8. Weltkonferenz der Religionen für den Frieden (WCRP) stand in Kyoto; Japan, vom 26.-29. August 2006 unter dem Thema: "Confronting Violence and Advancing Shared Security" (= Der Gewalt entgegentreten - gemeinsam an der Friedenssicherung arbeiten).
Es gilt Klarheit über die Rolle der Religionen und den Glauben heute zu finden.

a) Religio

Was ist unter Religio zu verstehen?
Der aus der römischen Kultur entnommene Begriff "religio" meint die auf die Götter bezogene menschliche Einstellungs- und Handlungsweise, die auch mit "deos colere" (=Götter verehren) umschrieben werden kann. "Religio" bezieht sich auch auf die Verben "relegere" (=gnaue Beachtung der Götter) und "religari (=Bindung an die Götter).
"Religio" ist nicht mit "Glaube" (=fides; besser= fiducia) zu identifizieren, denn "Religio" als Begriff meint kultische Verhaltensweisen; Glaube dagegen eine existentielle Lebenseinstellung aus Gott.
Eine phänomenologische Religionsbetrachtung der Religionen zeigt eine Fülle historischer Gesamterscheinungen, in denen Menschen ihre Beziehung zu einem Jenseitig-Göttlichen je persönlich erfahren, gemeinsam vollziehen, in Wort und Verhalten ausdrücken und begehen. Der Begriff Religio umfasst individuell innerliche und sozial religiöse Vollzüge, wie Gebet und Meditation, Kult und Feste, Verkündigung und Bekenntnis wie auch streng geregelte und ekstatische Erscheinungen. Religionen kristallisieren sich um Erzählungen, Mythen und heilige Bücher. Sie lokalisieren sich an heiligen Stätten und im Rhythmus heiliger Zeiten. Religio beinhaltet Sinnesentwürfe und Daseinsgestaltungen und Utopien. Sie thematisiert Unheil und Heil, die Absolutheit und Bedingtheit letzter Wahrheiten.
Religionen verwirklichen sich als Erinnerungs- und Kult-, als Werte-, Handlungs- oder Glaubensgemeinschaften. Eine Religionsgemeinschaft kann mit einem Minimum an Organisation auskommen, in dem sie sich auf eine Vielzahl von Anhängern stützt. Sie kann sich auch ausbilden zu einer straff organisierten Institution und einer göttlich legitimierten Hierarchie.
Soziologisch gesehen, sind Religionen ein Kulturfaktor ersten Ranges und können mit Kultur, Gesellschaft und Staat eine Bindung eingehen oder sich aus ihnen emanzipieren. Sie vermögen sich übernational und überregional zu gruppieren. Ihren Bezug zur Transzendenz zeigen sie in der Verehrung der Ahnen, jenseitiger Göttern oder einem einzigen Gott. Ihr Göttliches ist jeweils in der Welt oder im Jenseits, im Innern des Menschen gegenwärtig oder unerreichbar. Religionen können sich gegenseitig durchdringen und umformen oder bilden Familien gegenseitiger Abkunft. (1)
Mit der Aufklärung kam in Europa der Gedanke auf, dass "Religio" etwas fest Umrissenes, Definierbares, sei. Als ihre neue Sichtweise war, die in allen Menschen gemeinsam zukommende natürliche Religio. Auf dieses allgemeingültig-rationale Religionsverständnis wurden alle historisch gegeben Religionen zurückgeführt. Sie seien ein Ensemble von Elementen, das sich in vergleichbarer Form auf der Welt finde und sich auf ein bestimmtes Organisationsprinzip gründe. Ihre Regeln wurden vom westeuropäischen Christentum abgeleitet. An ihm wurden die anderen Religionen gemessen, definiert und strukturiert. (2)
So ist das rationale Religionsverständnis eines Herbert of Cherbury (1583-1648) geschichtlich durch die konfessionelle Spaltung und die Religionskriege bedingt. Dieses versuchte die Identität von Vernunft und Glaube als Einheitsfunktion zu verstehen. Diese Entwürfe einer natürlichen Religion zielten auf eine Gottesverehrung, die durch eine praktisch-moralische Lebensführung geleitet sein soll. Dies führte so weit, dass die natürlich-moralische Religio als Folge der autonom begründeten Moral angesehen wurde. Nach Immanuel Kant soll die allgemeingültige Moral den Bruch zwischen Vernunft und Natur im empirischen Dasein überwinden. (3) Die positiv christlichen geoffenbarten Inhalte wurden während der Aufklärungszeit an der Vernunft überprüft.
Die gegenwärtigen soziologischen Binnendifferenzierungen von Staat und Gesellschaft lassen Religio als ein soziales Subsystem unter anderen erscheinen. Doch diese Definition schlägt auf das europäische Christentum zurück. Seit der Aufklärung wird die Trennung von Staat und Kirche betrieben, die sogenannte Säkularisiation begann. Die Säkularisierung meint nicht so sehr die Verweltlichung religiöser Gehalte, sondern, dass die sozialen Systeme ausserhalb der Religio keine religiöse Funktionen ausüben. Nicht die Religio ist säkularisiert, sondern ihre soziale Umwelt.
Somit wird fesgestellt, dass das Heilige, das das Wesen der Religio bestimmt, in der unmittelbar zugänglichen Dimension der Wirklichkeit keine mehr Rolle spielt.
Dies führte im Laufe der Geschichte zu einer neuen Bestimmung der Religio, die demnach ihre Selbständigkeit nicht auf der Basis der theoretischen oder praktischen Vernunft gründet, sondern auf besondere Akte der individuellen Subjektivität.(4) Die anthropologische Sicht des Menschen als eines geistigen Wesen betonte, dass er in seinem Selbstbewusstsein erkennen kann. Vor allem Rene Descartes´ Satz: "Cogito ergo sum." begründete das autonome Subjekt. Er griff dabei auf Augustins Erkenntnislehre: "cogitari, ergo sum" zurück, die aus der Ich-Du-Beziehung erwuchs und das personale Subjekt beschrieb. (5) Das religiöse Subjekt geht demnach eine Beziehung zu einer religiösen Instanz ein, die eine Beziehung der Abhängigkeit von seinem Grund ist. Die Subjekt - Obejekt - Beziehung wird durch Gefühl, Anschauung, Erfahrung, Erleben, Vertrauen, Glauben oder Vorstellung verbunden.
So zeigte sich wieder, auch nach jahrzehnte langer Religionsunterdrückung durch kommunistische Diktaturen in Osteuropa eine praktizierende Religio im neuen gesellschaftlichen Leben. Der kommunistischen Ideologie unterlief eine fundamentale Fehleinschätzung dessen, was Religio tatsächlich ist. Daher konnte Max Horkheimer herausstellen: "Religion kann man nicht säkularisieren, wenn man sie nicht aufheben will." Ja, er weist in seinem Aufsatz "Zum Begriff des Menschen" auf die notwendigen Impulse des kritisch-negativen Philosophierens: "Indem die Philosophie den geschichtlichen Zusammenhang spiegelt, spricht sie, hierin der Theologie verwandt, das Negative, das Grauen und das Unrecht solchen Geschehens aus."(6)
Über das Wesen der Religio ist neu nachzudenken. Dies geschieht einerseits durch das gegenwärtige Wiedererstarken der Religio im ehemaligen kommunistischen Machtbereich und zum anderen vor allem aufgrund der religösmotivierten Anschläge im Nahen Osten und weltweit. Im westlichen Europa zeigt sich eine so genannte Renaissance der Religio durch die römisch-katholischen Großveranstaltungen, wie des Welt-Jugendtages in Köln 2005, des Papstbesuches in Bayern 2006 und der Kirchentage der Evangelischen und Katholischen Kirche in Deutschland.
Auch in der Moderne und Postmoderne lässt sich eine spezifisch postsäkulare Religio erkennen, die sich als festes Gefüge aus Lehre und Gebote versteht. Diese Form der Religio erscheint in vielen Facetten des konservativen, radikalen und fundamentalistischen Religiösen und erinnert teilweise an die herkömmlichen religiösen Traditionen. Religionen lehrt die Geschichte bleiben auf die überlieferten Inhalte einer positiven Religio bezogen. Diese Tatsache ist anzuerkennen.
Angesichts des religiös motivierten Terrors werden Forderungen nach einer guten Religio gestellt. Gewünscht wird auch von Areligiösen, dass Religio Moral, Mitmenschlichkeit und Ethik fördern solle. Ja, Religio möge eine vollkommene erfüllte Lebensform garantieren. Das religiös Gute soll auch die Ungläubigen erfassen und das Böse überwinden. Die neu gestellten Fragen nach der Religio und ihrer Funkion beinhalten Fragen nach der rechten Lehre und der rechten Ethik.

b) Glaube

Doch Religio ist mehr als religiöse Formen, Riten und Moral. Die religiöse Erfahrung ist viel zu groß, als dass sie sich auf das Gute festlegen lässt. Glauben ist die Äußerung einer Person im Vertrauen auf sie frei anzunehmen. Der tiefere Sinn des Wortes "Glaube" erschließt sich, wenn bedacht wird, dass die Worte glauben, loben und lieben verwandt sind. Beim Glauben handelt es sich immer um eine Beziehung zu Personen, die mit dem der Glaubwürdigkeit dessen, dem geglaubt wird, steht und fällt. Durch die gesamte Menschheit haben diese Wahrheiten und Kräfte eine fast allumfassende Macht über den menschlichen Geist ausgeübt, so das Erhabene und das Schreckliche, Hoffnung und Leid, Ekstase und die Erleuchtung, Offenbarung und das Unsagbare, Schweigen und Poesie, Gewalt und Heilung, Zwang und Gnade. Der religiös Empfindende erfährt etwas Essentielles, das die gesamte Skala der menschlichen Gefühle durchläuft. Deshalb werden Riten vollzogen, Tempel gebaut und die Rationalität der klassischen religiösen Texte lässt erkennen ihre göttliche Inspiriertheit und erlaubt ihre emotionale Zelebration. Diese formalen Eigentümlichkeiten hat der christliche mit dem allgemeinen Glaubensbegriff gemeinsam. Im christlichen Glauben ist es ja Gott selbst, der geglaubt wird, dem geglaubt wird und an den geglaubt wird, freilich unter der Voraussetzung, dass er sich selbst offenbart und dass die von Gott bestimmten Zeugen ihrerseits glaubwürdig sind. Der Unterschied besteht darin, dass die Kundgabe Gottes an die Person des Menschen im christlichen Glaubensverständnis alle Dimensionen des Menschen anruft und auf Gott verfügt und bei vollem Wesensvollzug Liebe ist und das Leben des Menschen bestimmt und somit auch dessen Ziel ist. Es ist die persönliche Betroffenheit von der Wahrheit und den Kräften, die nicht unmittelbar zugänglich sind, sondern wirken.
Der Außenstehende fragt rational nach Zweck und Ziel all dessen. Doch er kann nicht die Verinnerlichung des Religiösen begreifen, wenn er kein Verständnis dafür hat. Glaube charakterisiert das "Innenleben" des religiösen Menschen in Beziehung auf ein personal vorgestelltes göttliches Gegenüber. Die DU-Bezogenheit des Glaubens als Erfassen des Gottesverhältnisses bestimmen die prophetischen Religionen. Ja, sie ist Wesenszug des Gebets.
Deshalb wir der Glauben in den Religionen als die lebensbestimmende Wirklichkeit bezeichnet.
Ein Blick in die Religionsgeschichte zeigt dessen Wichtigkeit.
In der israeltischen jüdischen Tradition bedeutet Glauben: "Emuna" und meint die Festigkeit, Treue, Vertrauen, Aushalten, so Jesaja 7,9.
Glauben erscheint als ein Schlüsselwort des Islam. Alle Menschen gehören aufgrund ihres in der Schöpfung eingepflanzten Monotheismus zum großen Bund Gottes. Gott hat sich "zur Barmherzigkeit verpflichtet". (7) Als Gegenteil zum Glauben erscheint nicht der Unglaube, sondern das bewusste Verleugnen der Wirklichkeit Gottes.
Im Zoroastrismus bedeutet Glauben aufgrund seiner Wortwurzel "var" (= wählen), eine Entscheidung zwischen Gut und Böse treffen.
Glauben meint im Buddhismus:"Sadha" und verweist auf das in Buddha gesetzte Vertrauen, weil dieser den Heilsweg erfolgreich vorangeschritten ist. (8)
Mit dem Wort Glauben wird das Christentum umfassend von seiner normativen Seite, zugleich in seiner inhaltlichen und in seiner existentiellen Dimension beschrieben. Der Glaube als Vertrauen ist jedem Menschen möglich. Ja, der Glaube beinhaltet als Anerkennung des eigenen Ursprungs eine existentielle Dimension. Christlicher Glaube umfasst weiterhin die christliche Verkündigung, Lehre, Tradition, das christliche Bekenntnis und den christlichen Lebensentwurf. Der Glaube eröffnet das Heil, so Römer 10, 11; wer glaubt werde nicht sterben, Joh.11, 26; und auch ohne Werke gerettet, Römer 3,28. Der Glaube als unbedingtes Vertrauen auf Gott kann Berge versetzen, Markus 11,20-25. Der Glaube versteht sich als Gesamtpraxis der Lehre Jesu. Die Radikalität des Glaubens als Vertrauens entzündet sich am Wort, das Jesus im Namen Gottes verkündet. Der Glaube kommt aus dem Hören, Römer 10, 14-17. Der gemeinschaftliche Glaube, als personaler Akt, wird mit dem Munde bekannt und mit dem Herzen angenommen, Römer 10, 9. (9) Der Glaube ist demnach vernünftig. Die Entscheidungssituation des Glaubens ist somit erkennbar und beschreibbar.
Der persönliche Glaube steht in der Tradition der religiösen Gemeinschaft, der Kirche. Auch der gläubige Lebensstil gestaltet sich im soziokulturellen Zusammenhang durch das Vertrauen auf Gott. Paulus beantwortet die Frage: "Wie wird das neu gewonnene Vertrauen zu Gott in der Lebenspraxis Wirklichkeit?" mit 1. Korinther 13: durch die Liebe. Der Glaube erscheint im Neuen Testament als ein unhintergehbar individueller Akt und realisiert sich durch die soziale Identifikation mit den Glaubenden. Der Glaubende bleibt an Traditionen, Gemeinschaften und an von außen kommenden Vorgaben orientiert. Glaube hat demnach eine kulturell und gesellschaftliche bedingte Gestalt.

c) religiöses Selbstbewusstsein

Nach Thomas von Aquin ist Glauben als Wissenssystem rational vernünftig und verantwortbar. Der Glaube wird zu einem Akt, in dem der Verstand der Offenbarung Gottes in einem Akt rationaler Erkenntnis seine Zustimmung gewährt. Doch die Verschiedenheit von Glaube und Wissen drängt von sich aus zur Selbständigkeit, Autonomie. Mit Rene Descartes setzt die Selbstreflexion von Vernunft als einzig mögliche Basis gesicherten Wissens ein. Glaube und Wissen sind zwar verschieden, eigenständig und doch gegenseitig zugeordnet ohne dabei mit dem Glauben in einem Gegenstz zu geraten. Bei Immanuel Kant führt die Reflexion auf das Subjekt zu einem philosophischen Glauben. In der Vorrede zur "Kritik der reinen Vernunft" schiebt Kant das Wissen beiseite, um dem Glauben Platz zu machen. Demnach ist Gott nicht Gegenstand des Wissens der "theoretischen Vernunft", sondern der "praktischen Venunft" und deren Postulat für sittliches Handeln. Der Glaube denkt das Unbedingte als reale Voraussetzung der sittlichen Wirklichkeit. Dieser Glaube steht zwar im Gegensatz zum Offenbarungsglauben der Bibel und versteht diesen.
Glaube gründet seine Autonomie auf besondere Akte der individuellen Subjektivität. Auch religiöser Glaube im Sinne einer anthropologischen Dimension weiß um die Beziehung des religiösen Bewusstseins auf seinen Grund, so dass das religiöse Bewusstsein das Subjekt der Religion repräsentiert. Durch den Akt des Gefühls, der Anschauung, der Erfahrung, des Erlebens, des Vertrauenes, des Glaubens oder der Vorstellung geht das religiöse Bewusstsein eine Beziehung zu der Instanz ein, die es als seinen Grund namhaft macht. Glaube erscheint aber auch als passives Empfangen, als unmittelbarem Erlebnisses seines Grundes und ist unmittelbar evident. Der Glaube in den geschichtlichen Religionen bleibt auf die überlieferten Inhalte einer positiven Religion bezogen und sind als funktionale Ausdrucksphänomene des religiösen Bewusstseins gegenwärtig.
Der Dualismus von Glauben und Wissen verkennt die Einheit des dialogischen Charakters von Glaube und Vernunft im Menschen. Auch der Vorrang des Personalen setzt den personalen Grund, Gott, voraus. Glauben und Wissen werden in einer differenzierten Synthese zusammengedacht und zusammenzuführen. Denn im religiösen Wissen wird die Grundsituation von Mensch und Wirklichkeit erschlossen und verantwortet. (10)
Zur Wissens- und Entscheidungsdimension des Glaubens kommt wesentlich eine kommunikative, sozial orientierte Grundoption hinzu. Glaube ist im NT ein unhintergehbar individueller Akt, der sich vor dem Hintergrund seiner sozialen Identifikation mit der Kirche realisiert. Die Entscheidung für Gott geschieht an gemeinsamen menschlichen Glaubens-Erfahrungen, -Traditionen und - Instutitionen und zwar im Sinne des sozialen Wissens, Wollens und Handelns. Die Kraft eines solchen Glaubens beruht darin, sich auf die Glaubenswirklichkeit selber einzulassen und in seiner so gewonnen Rationalität keiner äußerlichen bestätigenden Zeichen mehr zu bedürfen. Nach Anselm von Canterbury(gest. 1109) verlangt der Glaube nach Einsicht. Das Denken entfaltet sich im Glauben und bringt die Einsicht in den Glauben hervor (=intellectus fidei).
Die Wahrheit des Glaubens kommt durch die Bewahrheitung des Glaubens in der Praxis. Theologie und Glauben können im Nachdenken über den Zusammenhang von Lehre und Praxis, von Inhalt und Bedeutung, nicht Einzelwissenschaft sein, sondern müssen sich als Wissenschaft des Ganzen ansehen.

d) Nutzen der Religion

Auch die Frage nach dem Zweck des Guten begreift nicht das Wesen der Religion. Denn Religio als gelebte Wirklichkeit ist ein Ganzes, das Gut und Böse umfasst. Von daher lässt sich Religio im Sinne betriebswissenschaftlichen Kriterien nicht managen und praktisch beurteilen. Deshalb darf Religio um der Religio willen nicht einer Idee unterzogen werden.
Aus dem Dargelegten über Religio, Glaube und religiöses Selbstbewusstsein gilt es nicht die Frage aufzunehmen: "Welcher Weg ist zu gehen, um zu Gott zu kommen?", sondern: "Wie wird das neu gewonnene Vertrauen zu Gott in der Lebenspraxis Wirklichkeit?"
Der Mensch denkt praktisch. Damit taucht die Frage nach dem Nutzen der Religio wie auch des Glaubens auf? Sie wird bereits im Neuen Testament so Johannes 1, 43-46 bei der Jüngerberufung gestellt: "Kann aus Nazaret etwas Gutes kommen?" fragte Natanel. Philippus aber antwortete ihm: "Komm mit und überzeuge dich selbst"; ebenso in Johannes 8, 66-69, als Petrus auf die Frage Jesus: "Wollt ihr mich auch verlassen?" entgegnete: "Deine Worte bringen das ewige Leben." Die religiöse Botschaft verweist auf den Nutzen des Lebens. Im diesen Sinne erklärt auch Dr. Martin Luther seinen Kleinen Katechismus, wenn er der Auslegung der Zehn-Gebote die Frage voranstellt: "Was ist das?" und bei der Auslegung der Sakramente, so bei dem Taufsakarement: "Was gibt oder nützt die Taufe?" Der religiöse Mensch will eine Gewissheit haben. Luther steht in der kirchlichen Tradition der Glaubensverantwortung. Papst Benedikt XVI zitiert im Zusammenhang seiner Rede vom 12.9. 2006: "Glaube, Vernunft und Universität" den byzantinischen Kaiser Manuel II Palaeologos, der 1391 einem muslimischen Perser über die Wahrheit des Islams befragt: "Zeige mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten".
Der Kaiser verwirft Glaubensverbreitung durch Gewalt; denn sie steht im Widerspruch zum Wesen Gottes und zum Wesen der Seele. So wie es bereits in der Bibel heißt, Gott hat kein Gefallen am Tode des Gottlosen, Hesekiel 18, 23. Demnach ist, nicht vernunftmäßiges Handeln, dem Wesen Gottes zuwider.
Es gilt zu sehen, dass das dualistische Weltbild von Gut und Böse, von Frieden und Gewalt nicht Basis der Religio und der Offenbarung sein kann und ist, auch wenn die Wirklichkeit dualistisch erscheint durch das Leid und durch die Verletzungen. Das rationale Denken kann diese dualistische Spannung nicht lösen, weil es der Immanenz verhaftet ist. Eigenartig bricht angesichts des Bösen und des Leidens im rational Denkenden die Sehnsucht nach dem ganz Anderen auf, so wie es der Apostel Paulus im Römer 8, 19ff. benennt: die ganze Schöpfung wartet auf die Erlösung. Max Horkheimer spricht als kritischer Denker vom "metaphysischen Bedürfnis des Menschen": "Indem die Idee der Auferstehung der Toten, des Jüngsten Gerichts, des ewigen Lebens als dogmatische Setzungen negiert sind, wird das Bedürfnis der Menschen nach unendlicher Seligkeit ganz offenbar und tritt zu den schlechten irdischen Verhältnissen in Gegensatz." (11) Der Apostel Paulus begründet diese "metaphysische Sensucht des Menschen" nicht aus dem menschlichen Denken, das angesichts des Leides transzendiert, sondern aus dem Glauben an Gott, der die Ganzheit der Wirklichkeit einschließt: "Denn unser Leben wird jetzt vom Geist Gottes bestimmt und nicht mehr von unserer selbstsüchtigen Natur". (Römer 8, 4) Paulus spricht von der Wirkung der Liebe Gottes, die den Menschen errettet, erlöst und beschenkt. (Römer 8, 38ff.) Von daher bestimmt Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika 2006 "Deus caritas est" das Zentrum des christlichen Glaubens als die Liebe Gottes zu den Menschen im Sinnes des 1.Johannesbriefes 4,7ff..
Das Böse, das sich jetzt in dem religiös motivierten Terror zeigt, ist verursacht durch die je freie Willensentscheidung des Geschöpfes nach Genis 3, das sich mit einer solchen freien Entscheidung in Widerspruch zu Gott setzt. Das Böse und in Folge die Sünde haben keine Eigenwirklichkeit in sich und sind keine Gott gegenüberstehende Wesen, sondern die von Gott zugelassene geheimnisvolle Möglichkeit des freien Geschöpfes. Der Mensch kann den Anruf Gottes, der sich sein Geschöpf als freies Gegenüber nach Genesis 2 geschaffen hat, aus egoistischen, narzißtischen und autonomen Motiven übergehen. Dadurch wird der Mensch Gott gegenüber schuldig, weil er nicht mehr aus der Liebe Gottes als seinem Ziel handelt und lebt.
In diesem Sinne haben die muslimischen Gelehrten Recht, wenn sie die religiös motivierten muslimischen Selbstmordattentäter verwerfen und als Zuwiderhandelnde des Korans ansehen. Denn nach dem Koran ist auch der Mensch ein Geschöpf Allahs. Aus diesem Grund gilt es, die inszenierten Berichte der muslimischen Selbstmordattentäter genau zu sehen und zu lesen, um zu erkennen, dass sie dazu aus egoistischen Motiven den Koran missbrauchen und in ihrem Sinne auslegen. Intensiv haben sich mit diesem Thema Victor und Victoria Trimondi in ihrem Buch "Krieg der Religionen" auseinandergesetzt und die narzißistische Mentalität der Attentäter aus der Befolgung der Riten im Sinnes des Koran dargelegt. (12)
Trotzdem gilt es, gegen die bösen Absichten und Taten des Religionsmissbrauches anzukämpfen, um dem Guten zur Wirklichkeit zu verhelfen. Es gilt wirklich nach dem Nutzen des Willen Gottes zu fragen: Wird der Wille Gottes im Sinnes der Lebenserhaltung aus Glauben eingesetzt? Ja, wird das Böse durch die Religio, den Glauben überwunden?
Auf den Frieden hinarbeiten wollen die buddhistischen, hinduistischen, jüdischen und muslimischen und christlichen Religionsgemeinschaften, die sich auf der 8. Weltkonferenz der Religionen für den Frieden in Kyoto, Japan, August 2006 versammelt haben. In drei Kommissionen wurde konkret über Konflikttransformation, Friedensbildung und nachhaltige Entwicklung diskutiert. Folgende Deklaratio wurde erlassen: "Als Delegierte der 8. Weltversammlung der Religionen für den Frieden sind wir fest mit einander verbunden in unserer Verpflichtung, Gewalt in allen ihren Formen zu verhindern und zu bekämpfen, und überzeugt von der Kraft multireligiöser Zusammenarbeit, um die Vision gemeinsamer Friedenssicherung zu verwirklichen. Wir verpflichten uns, unsere Religionsgemeinschaften dazu zu bringen, zusammen mit allen gesellschaftlichen Kräften darauf hin zu wirken, Kriege zu beenden, am Aufbau gerechter Strukturen zu arbeiten, die Erziehung zu Gerechrichtigkeit und Frieden zu stärken, Armut zu überwinden und eine nachhaltige Entwicklung für die kommenden Generationen zu fördern."
Gewiss, wissen wir, dass die Appelle solcher Konferenzen gut gemeint sind und manches schon bewirkt haben. Doch es kommt auf die rechte Glaubenshaltung Gott gegenüber an, die das menschliche Leben und Handeln bestimmen soll. Bereits der Apostel Jakobus schreibt: "Der Glaube als Lebenshaltung verstanden müsse sich bewähren" (Jakobus 2,14 ff.) Zur Wissens- und Entscheidungsdimension des Glaubens hat wesentlich eine kommunikative, sozial orientierte Grundoption in der Praxis hinzuzukommen. Darüber ist neu konkret nachzudenken.

Anmerkungen:

1) Feil. G.: Religio. Göttingen 1986
-- Wagner, Falk: Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986
2) "Ceremonies et coutumes religieuses..." Kupferstiche von Benard Picart, Amsterdam 1733
3) Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) Hamburg. 6. Auflage. 1986
4) Schleiermacher, Friedrich, Daniel, Ernst: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799
5) Augusin, Aurelius: Confessiones, Buch X
6) Horkheimer, Max: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt/M. 1967. S., 201
7) Koran Sure 6, 12.54
8) Gustaf Wingren: Religionsphänomenologie, Berlin 1969, S., 82-90
9) Ebeling, Gerhard: Das Wesen des christlichen Glaubens, Tübingen , 4. Aufl. 1977.
10) Sauter, Gerhard (Hg.): Theologie als Wissenschaft. München 1971
---Tillich, Paul: Systematische Theologie, Stuttgart 1987, Bd. I.
11) Horkheimer, Max: Kritische Theorie. Frankfurt/M 1968. Bd. I., S., 371
--- Horkheimer, Max: Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Hamburg 1970.
12) Trimondi, Victor und Victoria: Krieg der Religionen. Politik, Glaube und Terror im Zeichen der Apokalypse. München 2006, S. 341ff

Pfarrer Dr. Horst Jesse, Berlstraße 6a, 81375 München